Fragt man Federico Gentile, was er so für ein Typ ist, dann sagt er: “Ich finde es interessant, Dinge zu verbessern.” Der Mitte 30-jährige Informatiker engagiert sich im Luxemburger Verein Zentrum für urbane Gerechtigkeit für eine lebenswertere Stadt. Sein bisher größtes Projekt ist eine Recherche zu sicheren Zebrastreifen. Es ist eine Geschichte über Datenjournalismus und mauernde Behörden, über die erfolgreiche Suche nach Verbündeten und darüber, welche Enthüllungen in kostenlosen Satellitenbildern schlummern.

ORN: Federico, Luxemburg-Stadt hat rund 1.800 Zebrastreifen. Was stimmt mit denen nicht?

Federico Gentile: Mehrere Hundert davon sind zugeparkt, die Parkplätze sind sogar offiziell eingezeichnet. Dabei ist Parken im Abstand von fünf Metern rund um Zebrastreifen verboten. Die Autos versperren die Sicht auf Fußgänger*innen, und das erhöht die Unfallgefahr. Wir hatten davon zuerst durch den Hinweis eines Twitter-Users gelesen. Seitdem konnten wir nicht anders, als überall in der Stadt diese unsicheren Zebrastreifen zu bemerken. Also dachten wir, das müssten wir systematisch angehen.

ORN: Wie habt ihr das gemacht?

Federico: Zuerst haben wir OpenStreetMap genutzt. Das ist so eine Art Wikipedia für Karten. Menschen tragen dort zum Beispiel Geschäfte, öffentliche Toiletten, Bushaltestellen und eben auch Zebrastreifen ein. Mit einer Programmierschnittstelle, Overpass, kannst du diese Daten gezielt durchsuchen. Wer sich damit nicht so gut auskennt, kann das auch direkt im Browser auf overpass-turbo.eu machen. Am Ende brauchst du nur einen Suchbefehl und bekommst die genauen Koordinaten der Zebrastreifen in Luxemburg-Stadt.

ORN: Wie habt ihr geprüft, ob die Zebrastreifen zugeparkt sind?

Federico: Bei OpenStreetMap gab es nicht genug Daten über Parkplätze, also haben wir nach Satellitenbildern gesucht. Die Aufnahmen bei Google Maps hatten keine ausreichend gute Auflösung und waren nicht aktuell genug. In Luxemburg wird ständig gebaut, das Stadtbild verändert sich schnell. Zum Glück veröffentlicht Luxemburg auf geoportail.lu selbst hochauflösende Satellitenbilder. Das Material ist quelloffen und wird zwei Mal pro Jahr erneuert.

ORN: Und dann habt ihr eine Art Tinder gebaut, richtig?

Federico: Ja, wir haben uns gefragt, wie wir das bewältigen können, so viele Satellitenbilder zu prüfen. Unser Zebrastreifen-Tinder sollte die Arbeit so angenehm wie möglich machen. Du hast dann vor dir auf dem Handy ein Satellitenbild und als Hilfsmittel einen Kreis mit einem Fünf-Meter-Durchmesser, den du frei verschieben kannst. Wie bei Tinder wischt man nach rechts oder links, je nachdem, ob ein Zebrastreifen sicher oder unsicher ist. Genauer gesagt: ob es im Fünf-Meter-Umkreis Parkplätze gibt oder nicht.

Zebrastreifen-Tinder (github.com/fedus/safe_crossing)

ORN: Große Datensätze nach dem Tinder-Prinzip zu labeln – genau das hatte auch das Team rund um Emily Baker-White gemacht, die ich mal für diesen Newsletter interviewt habe. Ich fand das mega innovativ. Jetzt frage ich mich: Ist das vielleicht gar nicht so krass, weil das eh alle machen?

Federico: Ganz ehrlich – keine Ahnung! 😅 Ich kannte das nicht vorher. Aber man erfindet ja ganz selten etwas Neues.

ORN: Okay! Und wie schwer ist das, so eine App zu programmieren?

Federico: Wir haben daran abends in unserer Freizeit gearbeitet, das hat nicht besonders lange gedauert. Den Code haben wir auf GitHub veröffentlicht. Ich finde aber, wer selbst so eine Recherche machen will und keine Programmierer*innen im Team hat, sollte sich nicht einschüchtern lassen. Letztlich kann man das auch mit einer Tabelle schaffen.

ORN: Wie lange musstet ihr Zebrastreifen tindern?

Federico: Drei bis vier Wochen, aber wir hatten uns dafür Hilfe geholt. Im Verein sind wir nur zu fünft. Wir haben, damals noch auf Twitter, gefragt, wer uns uns beim Zebrastreifen-Tinder helfen möchte. Dafür haben wir ein Vorschau-Video veröffentlicht, auf dem man sich das Interface der App anschauen konnte. Darauf haben sich 20 bis 25 Freiwillige gemeldet. Es kann sich also sehr lohnen, wenn man solche Projekte öffentlich begleitet! Jeder Zebrastreifen wurde mindestens fünf Mal überprüft. Am Ende wussten wir, dass knapp 500 davon gegen das Gesetz verstoßen.

Der Streit geht vor Gericht

ORN: Wie habt ihr sichergestellt, dass die Daten stimmen?

Federico: Anders als beim echten Tinder gab es in unserer App noch eine dritte Option, die man antippen konnte, wenn man sich unsicher ist. Wir haben nur Zebrastreifen mit eindeutigen Voten gewertet; uneindeutige haben wir nochmal genau betrachtet. Außerdem haben wir Stichproben gemacht und bei einigen vor Ort nachgemessen.

ORN: Und dann haben sich die Behörden herzlich für eure Recherche bedankt und die Geschichte hatte ein Happy End. – Richtig?!

Federico: Leider nein. Die Geschichte ist bis heute nicht vorbei. Die Stadt wollte sich zuerst gar nicht äußern. Das ist erst durch Druck von Oppositionsparteien und Presse passiert. Dann kam der Vorwurf, dass unsere Methode falsch sei, in Wahrheit gebe es nur knapp 40 problematische Zebrastreifen. Das konnten wir nicht nachvollziehen. Wir wollten deshalb von der Stadt wissen, wie sie auf diese Zahl kommen. Aber die Stadt will ihre Dokumente nicht offenlegen. Auch nicht nach einer Anfrage per Informationsfreiheitsgesetz.

ORN: … ein Gesetz, das den Staat verpflichtet, Informationen offenzulegen, wenn keine besonderen Gründe dagegen sprechen.

Federico: Deshalb klagen wir jetzt vor dem Verwaltungsgericht. Der Termin ist im September. Wir bekommen oft die Frage, ob es nicht auch wichtigere Dinge gibt, immerhin beschäftigen wir uns jetzt seit 2021 mit Zebrastreifen.

ORN: Und was antwortest du dann?

Federico: Es gibt immer wichtigere Dinge, aber sichere Straßenübergänge sind eine legitime Forderung. Nur weil der Verkehr in Chicago schlimmer ist, heißt das nicht, dass man hier nichts verbessern sollte. Eigentlich sind die Distanzen in Luxemburg kurz und man könnte vieles zu Fuß oder mit dem Rad erledigen. Aber ähnlich wie die Deutschen lieben die Luxemburger*innen ihr Auto. Wer selbst mal angefahren wurde, nimmt das Thema vielleicht nicht mehr auf die leichte Schulter.

“Wir freuen uns, wenn Menschen etwas Ähnliches starten”

ORN: Stecken da noch mehr Recherchen in der Kombination aus OpenStreetMap und Satellitenbildern?

Federico: Ja, wir freuen uns, wenn Menschen etwas Ähnliches starten! Man könnte zum Beispiel erfassen, wie gut Bodenleitsysteme in einer Stadt verbreitet sind.

ORN: … das sind diese weißen Bodenplatten mit Rillen oder Noppen, die Menschen mit Sehbehinderung den Weg zeigen.

Federico: Genau. Eine andere Idee sind Fahrradwege: Sind die wirklich breit genug? Hören sie mittendrin auf? Kostenlose Satellitenbilder aus anderen Ländern gibt es zum Beispiel vom Copernicus-Programm der ESA.

ORN: Was hast du aus der Recherche gelernt?

Federico: Dass du immer Hilfe und Verbündete finden kannst, wenn du danach suchst. Irgendwann wurde klar, dass wir keine Chance auf die Dokumente haben, wenn wir nicht vor Gericht ziehen. Also haben wir in sozialen Medien nach Spenden gefragt, um das nicht aus eigener Tasche zu zahlen. Innerhalb weniger Monate kamen per Crowdfunding rund 8.000 Euro zusammen. Das hat uns enorm motiviert. Dabei hat es uns auch geholfen, ein eingetragener Verein zu sein. Wir haben diesen Verein überhaupt erst gegründet, als die Sache ernster wurde. Ich glaube, Menschen spenden lieber an einen Verein als an irgendeine Privatperson.

ORN: Hatte eure Recherche schon Konsequenzen?

Federico: Ja, Dutzende Medien haben berichtet, inzwischen auch über die Grenzen von Luxemburg hinaus. Und wenn wir durch die Stadt gehen, sehen wir, dass sich bei einigen Zebrastreifen etwas verändert hat. Plötzlich sind da Schraffierungen auf der Straße, damit dort keine Autos parken. Die Stadt hat dazu nichts kommuniziert. Wenn wir das sehen, müssen wir schon schmunzeln.

ORN: Vielen Dank für das Interview!