Kaum jemand hat so viele Enthüllungen über TikTok veröffentlicht wie Emily Baker-White, Redakteurin beim US-amerikanischen Forbes-Magazin. Eigentlich wollte ich mit ihr über eine TikTok-Recherche sprechen, die auf Daten von LinkedIn basiert. Aber Emily sagte mir spontan: Da gibt es eine noch spannendere Geschichte.

Emily Baker-White: Bevor ich deine Frage beantworte, würde ich dich gerne weiter in meine Vergangenheit mitnehmen. Denn mein Einstieg in den Journalismus war tatsächlich eine Online-Recherche.

ORN: Erzähl mir mehr.

Baker-White: Bevor ich Journalistin wurde, war ich Anwältin. Ich habe Menschen vertreten, die in den USA zum Tode verurteilt wurden. Einer meiner Mandaten war bereits wegen Mordes verurteilt, weil er einen Polizeibeamten getötet hatte. Mord ist das einzige Delikt, für das du in de USA in die Todeszelle gesteckt werden kannst. Für meinen Mandaten gab es allerdings strafmildernde Umstände. Einer davon war, dass er und einige seiner Bekannten Opfer von Polizeigewalt waren, und zwar durch den getöteten Beamten. Der Beamte war weiß, mein Mandant Schwarz. Wir haben also beschlossen, die Facebook-Accounts von Polizist*innen zu untersuchen.

ORN: Ich glaube, ich muss das kurz verarbeiten. Du hast als Anwältin versucht, Opfern rassistischer Polizeigewalt das Leben zu retten, nachdem sie zum Tode verurteilt wurden?!

Baker-White: Ja.

ORN: 🤯

Baker-White: Es war eine breit angelegte Untersuchung öffentlicher Facebook-Accounts von Polizist*innen in den ganzen USA, insbesondere Philadelphia. Wir nannten es das “Plain View Projekt”.

ORN: Und mit dieser Online-Recherche wolltet ihr Belege dafür sammeln, dass die Tötung des Polizisten durch euren Mandanten kein Mord war und somit keine Grundlage für eines Todesstrafe?

Baker-White: Richtig. Das Ergebnis war eine Sammlung öffentlicher Posts und Kommentare von aktuellen und ehemaligen Beamt*innen. Einige davon waren rassistisch, andere befürworteten Polizeigewalt.

Haben händisch mehr als 813.000 Facebook-Posts untersucht

ORN: Wie habt ihr die Accounts gefunden?

Baker-White: Es fing mit ein paar Facebook-Accounts an, auf denen Polizist*innen offen über Polizeigewalt sprachen, als wäre ihnen nicht klar, dass die Gespräche öffentlich sind. Das fand ich sehr verstörend und wollte wissen, wie viel sich davon finden lässt. Letztlich habe ich zwei Jahre damit verbracht, das Ausmaß des Problems zu erkunden.

ORN: Mit welchem Ergebnis?

Baker-White: Wir haben händisch mehr als 813.000 Facebook-Posts untersucht, veröffentlicht von rund 3.500 Polizist*innen. Die meisten davon waren harmlos wie Bilder von einem Baseballspiel; es waren einfach Menschen, die ihren Alltag leben. Aber gut 5.000 Posts waren unseren Kriterien zufolge nicht harmlos. Unsere Leitfrage war: Könnte dieser Post das öffentliche Vertrauen in die Polizei infrage stellen?

Einige Posts taten das völlig offensichtlich. Das waren etwa hasserfüllte Aussagen über Migrant*innen oder Polizist*innen, die sich gegenseitig aufstacheln, Menschen noch mehr Gewalt anzutun. Es gab jede Menge abwertender, entmenschlichender Äußerungen. Und es gab Polizist*innen, die sich als Mitglieder extremistischer Gruppen wie den “Oath Keepers” zu erkennen gaben. Diese Gruppen waren damals noch nicht sehr bekannt. Später sollten sie zu denen gehören, die am 6. Januar 2021 das US-Kapitol gestürmt haben.

ORN: Wie haben andere Polizist*innen auf die gewaltsamen Facebook-Posts reagiert?

Baker-White: In der Gesamtschau geht aus den Daten hervor, dass die Beamt*innen in einer Art negative Feedback-Schleife geraten sind. Das wurde vor allem in den Kommentarspalten deutlich. Es waren hauptsächlich Männer, die sich noch brutaler und maskuliner als die anderen zeigen wollten. Sie haben Dinge geschrieben wie: “Ich hätte ihn noch härter geschlagen!”, oder: “Ich hätte ihn erschossen!”. Das erinnert mich an Radikalisierung und Rabbit-Hole-Effekte, die bei sozialen Medien allgemein diskutiert werden.

ORN: Wie habt ihr die Menge der Posts bewältigt?

Baker-White: Zuerst kam der Facebook-Account einer Person, die offenbar Polizist*in ist. Dann haben wir die hochgeladenen Fotos gesichtet und nach Hinweisen wie Uniformen und Dienstmarken gesucht. Das war mühsam, ich habe das Abertausende Male gemacht. Sobald wir uns sicher waren, dass die Person hinter dem Facebook-Account wirklich für die Polizei arbeitet, haben wir alle von ihr veröffentlichten Beiträge mit einem Scraper erfasst, den unser technischer Leiter programmiert hat. Außerdem hat er für uns ein Programm geschrieben, das wir „Cop Tinder“ nannten. Damit haben wir die Facebook-Posts sortiert.

Das hat geprägt, wie ich Recherchen angehe

ORN: Das heißt, die Software hat euch – wie bei Tinder – die einzelnen Facebook-Posts nacheinander angezeigt, und ihr musstet entscheiden: hot or not?

Baker-White: Ja, wenn ein Post für unsere Untersuchung relevant war, haben wir ihn nach rechts gewischt; wenn er nicht relevant war, haben wir nach links gewischt. Damals habe ich ein Team aus 14 Personen geleitet, das viele Monate lang „Cop Tinder“ gespielt hat. Jeder Post wurde mehrfach von menschlichen Augen geprüft. Alle Ergebnisse sind auf plainviewproject.org/data öffentlich zugänglich.

ORN: Ich finde, das ist ein interessantes Beispiel dafür, wie sich große Datenmengen mithilfe von Gamification sortieren lassen. Konnte eure Arbeit dem Mandanten in der Todeszelle helfen?

Baker-White: Nein, Jahre nachdem ich das Anwaltsteam verlassen hatte, wurde unser Mandat durch den US-Staat Missouri hingerichtet. US-Gesetze zur Todesstrafe haben viel damit zu tun, zu welchem Zeitpunkt man welche Ansprüche geltend macht. Mit einem anderen Timing wäre der Fall vielleicht anders verlaufen.

ORN: Hat eure Datenrecherche zu Polizeigewalt dennoch etwas bewirkt?

Baker-White: Ja, wir haben die Daten mit der non-profit-Redaktion Injustice Watch geteilt, die im Jahr 2019 mehrere Berichte dazu veröffentlicht hat. Es gab auch einen Bericht bei Buzzfeed News, wo ich später als Journalistin tätig wurde.

ORN: Hier ist auch ein Buzzfeed-News-Artikel aus dem Jahr 2019: “13 Polizist*innen aus Philadelphia werden wegen rassistischer und gewalttätiger Facebook-Posts gefeuert”. Was hast du aus der Recherche gelernt?

Baker-White: Das Plain View Projekt hat geprägt, wie ich Recherchen angehe. Es hat sich ähnlich angefühlt, als ich vergangenes Jahr all die LinkedIn-Profile von ByteDance-Angestellten vor mir hatte.

ORN: Und damit sind wir wieder bei dem Thema, das ich ursprünglich für das Interview im Blick hatte.

Baker-White: Beide Recherchen waren keine statistischen Studien. Wir können nicht sagen: Soundsoviel Prozent aller Polizist*innen befürworten Polizeigewalt. Wir können nur sagen: Das ist die Zahl der überprüften Fälle, die wir gefunden haben; und schon das hilft Menschen dabei, das Ausmaß des Problems besser zu verstehen.

ORN: Der Titel deines Forbes-Artikels fasst die Recherche gut zusammen: “Aus LinkedIn-Profilen geht hervor, dass 300 aktuelle Mitarbeiter von TikTok und ByteDance früher für chinesische Staatsmedien gearbeitet haben – und einige von ihnen tun es immer noch.“ Ich vermute, dieses Mal hast du nicht zwei Jahre lang recherchiert?

Baker-White: Nein, das waren ein bis zwei Monate. Ich habe dafür ein LinkedIn-Tool namens “Sales Navigator” genutzt. Das ist eigentlich nicht für Journalist*innen gemacht, hat aber bessere Suchfunktionen als das gewöhnliche LinkedIn. Du kannst damit Accounts finden, die dieselbe Kombination ans Arbeitgeber*innen im Lebenslauf haben. Auf diese Weise konnte ich aktuelle und ehemalige Angestellte von ByteDance und TikTok finden, die auch für chinesische Staatsmedien gearbeitet haben.

ORN: Vom “Sales Navigator” habe ich noch nicht gehört, das ist ein schöner Werkzeug-Tipp zum Abschluss. Emily, vielen Dank für deine Zeit.

Das Gespräch wurde aus dem Englischen übersetzt. Mehr über Emilys TikTok-Recherchen lest ihr in einem zweiten Interview, drüben bei netzpolitik.org. Dort hat sie mir erzählt, wie TikTok sie überwacht hat, um ihre Quellen zu enttarnen – und welche Gefahr sie im chinesischen Mutterkonzern ByteDance sieht.