Josef Holnburger ist Political Data Scientist und beobachtet, wie Rechtsextreme und Verschwörungsgläubige auf Telegram mobil machen. Eingebettet ist seine Arbeit ins Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS). Das Zentrum forscht zu Verschwörungsideologien, Desinformation, Antisemitismus und Rechtsextremismus. Im Interview erzählt der CeMAS-Geschäftsführer, wie er Tausende Kanäle und Gruppen auf Telegram im Blick behält – und wie daraus Recherchen entstehen.

Josef, du beobachtest systematisch deutschsprachige Rechtsextreme und Verschwörungsideolog:innen auf Telegram. Gibt es irgendjemanden, der das genauer verfolgt?
Ich glaube nicht. Deshalb haben wir auch eine Organisation gegründet, um solche Analysen in einem umfassenden Maß erstellen und auswerten zu können. Wir wollen nicht nur durch tägliches Durchscrollen ein bisschen schätzen. Wir erfassen in rund 3.500 aktiven Gruppen und Kanälen mehrere Millionen Nachrichten am Tag.

Wie kann man mit so vielen Telegram-Nachrichten hantieren?
Telegram bietet dafür eine Programmierschnittstelle (API). Damit können wir automatisiert erfassen, was in öffentlichen Gruppen und Kanälen passiert. Das ist ein ständiger Datenfluss auf unserem Server. Man kann dafür Tools wie Pyrogram und Telethon nutzen. Wir haben uns auf deren Grundlage übersichtliche Dashboards programmiert, mit denen wir das tägliche Geschehen verfolgen können.

Wie hast du all die Gruppen und Kanäle auf Telegram gefunden?
Zuerst habe ich im März 2020 mit Expert:innen gesprochen und einen Grundstock aus rund 400 Gruppen und Kanälen gesammelt, die ich beobachten will. Danach war es nicht schwer, weitere zu finden. Auf Telegram gibt es die Funktion, dass man eine Nachricht in eine andere Gruppe weiterleitet. Das wird noch stärker genutzt als Retweets auf Twitter. So liefern die Nutzer:innen selbst immer wieder Hinweise auf neue Kanäle und Gruppen. Wir überprüfen jede davon händisch, ob sie wirklich zum Milieu gehört.

Wieso passiert all das ausgerechnet auf Telegram?
Ab 2018 gab es im rechtsextremen und verschwörungsideologischen Milieu immer wieder große Bewegungen hin zu Telegram. Plattformen wie Facebook und Twitter haben strenger moderiert. Führende Rechtsextreme haben dazu aufgerufen, Telegram zu nutzen. Das war ein Netzwerkeffekt: Wer in dem Milieu eine Rolle spielen wollte, musste auf Telegram vertreten sein. So hat sich das Milieu auf Telegram eine eigene Wohlfühl-Bubble geschaffen.

Was war deine wichtigste Telegram-Recherche bisher?
Das ist unser QAnon-Report vom Frühjahr 2022. 

… ein antisemitisch geprägter Verschwörungsmythos, der um die Erzählung kreist, dass düstere Eliten massenhaft Kinder quälen – und Donald Trump die Welt retten will.
Man dachte lange, QAnon spielt keine Rolle mehr, nachdem Donald Trump nicht mehr US-Präsident ist. Aber wir haben im Jahr 2022 gesehen: Das Milieu ist immer noch so groß wie im Vorjahr. Und in Deutschland gibt es das vermutlich zweitgrößte QAnon-Milieu der Welt. Die deutschsprachige QAnon-Szene ging zeitgleich mit der Corona-Pandemie steil. In der Erzählung galt die Pandemie als geheimer Plan von Trump, um den „deep state“ in Deutschland und Europa zu schwächen.

Welche Rolle spielt Datenschutz bei eurem Monitoring?
Nachrichten in Kanälen und Gruppen auf Telegram sind öffentlich. Sie lassen sich auch direkt im Browser aufrufen. Viele denken, Gruppen und Kanäle sind ein geschützter Raum, aber das stimmt nicht. Wir stellen Daten allerdings nur aggregiert zur Verfügung und untersuchen keine geschlossenen und privaten Gruppen.

„Durov ist der russische Elon Musk“

Keine geschlossenen Gruppen?! Da entgeht euch doch bestimmt einiges.
Geschlossene Gruppen kann man sich für investigative Recherchen ja gezielt anschauen. Uns ist es wichtig, den Untersuchungsgegenstand nicht zu verändern, und oft muss man in geschlossenen Gruppen mit anderen Nutzer:innen interagieren. Das wollen wir nicht, da nehmen wir lieber einen blinden Fleck in Kauf. Es gab auch Recherchen, in denen Forscher:innen und Journalist:innen selbst Verschwörungserzählungen verbreitet haben, um zu schauen, was passiert. Das finden wir sehr bedenklich und würden das auf keinen Fall tun.

Hast du manchmal den Wunsch, mit dem Telegram-Monitoring aufzuhören?
Eigentlich nicht. Ich kann verstehen, wenn Menschen damit aufhören wollen, denn die Inhalte zu sehen ist oft hart und ermüdend. Für mich ist es eine Leidenschaft. Man braucht aber auch immer wieder Ausgleich: Freund:innen, Humor, psychologische Betreuung. Bei CeMAS haben wir Supervision für alle Mitarbeiter:innen. Wenn man lange in den Abgrund reinblickt, blickt der Abgrund zurück. Da braucht man nicht nur eigene Maßnahmen, sondern auch professionelle.

Indirekt bist du schon zwei Mal in diesem Newsletter aufgetaucht, weil Kolleg:innen für journalistische Projekte mit deinen Daten gearbeitet haben. Wie viele Recherche-Themen hast du eigentlich auf Halde?
Es gibt sehr viele Themen, die man beackern könnte. Üblicherweise veröffentlichen wir eigene Analysen. Wenn es wissenschaftliche oder journalistische Ideen gibt, kann man sich aber direkt an CeMAS wenden, und dann können wir gerne darüber sprechen, wie man der Idee nachgehen kann.
Spannend finde ich gerade, dass man über Telegram inzwischen auch Geldzahlungen machen kann. Der Zahlungsabwickler ist nicht Telegram selbst, sondern andere Dienstleister per Programmierschnittstelle. Es ist unterberichtet, inwiefern das nun Rechtsextreme, Verschwörungsideolog:innen oder Terror-Organisationen nutzen.

Was schätzt du, wohin entwickelt sich Telegram in Zukunft?
Es wird selten erwähnt, dass sich Telegram finanziell nicht selbst tragen kann. Alle Versuche, Telegram zu einem monetären erfolgreichen Projekt zu machen, sind bislang gescheitert. Telegram-Chef Pavel Durov wird oft als russischer Mark Zuckerberg bezeichnet. Ich finde, Durov ist eher der russische Elon Musk. Durov erscheint mir viel zu unberechenbar, als dass ich eine Prognose über die Zukunft von Telegram wagen könnte.

Im September habe ich mit Josef auch für netzpolitik.org über Telegram gesprochen. In dem Interview erklärt er, welche Rolle der Messenger während der Anti-Corona-Proteste in Deutschland spielte und wie sich die Protest-Gruppen nun auf ein neues Wut-Thema fokussieren.