Seit 2018 berichtet Alexander Fanta intensiv über EU-Politik, lange für netzpolitik.org, seit September für Follow The Money. Im Interview erklärt er, warum man selbst für die offiziellen Websites der Europäischen Union Recherche-Skills benötigt, wie man durch geschicktes Monitoring den Überblick behält – und warum sich der politische Journalismus ändern muss.

ORN: Alex, warum lassen sich die Info-Angebote der EU so schwer nutzen?

Alexander Fanta: Die EU veröffentlicht viel, aber sie tut es sehr unübersichtlich. Neben den drei wesentlichen Organen – Kommission, Parlament und Rat – gibt es Dutzende weitere Akteur*innen. Und alle treffen potentiell relevante Entscheidungen, die für Journalist*innen interessant sein können. Die EU finanziert auch unglaublich viele Studien mit potentiell interessanten Ergebnissen.

ORN: Und damit sich die EU-Bürger*innen schnell informieren können, gibt es doch bestimmt eine praktische Anlaufstelle für alles – ODER?

Alex: Auf diese sarkastische Frage gibt es nur eine sarkastische Antwort: Haha, nein. Jedes Organ betreibt eigene Websites und strukturiert Informationen anders. Das ist verwirrend und mega nervig. Der Website des EU-Parlaments merkt man zum Beispiel an, dass sie aus einem anderem Jahrzehnt kommt. Daten über das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten sind sehr mühsam zu finden.

Die Kommission veröffentlicht zwar, welche Lobbyist*innen einen Termin bei den Kommissar*innen hatten – sie speichert das aber in schwer durchsuchbaren PDF-Dateien. Besser abrufbar ist das auf integritywatch.eu, das ist eine Website von Transparency International EU. Manchmal gibt es für dieselbe Sache mehrere Abkürzungen, zum Beispiel sind COREPER und AStV dasselbe. Dafür sind Europäischer Rat, Rat der Europäischen Union und Europarat nicht dasselbe.

ORN: Wie behältst du den Überblick?

Alex: Ich habe viel zu lange probiert, das nebenher und intuitiv zu machen. Aber das klappt nicht gut. Inzwischen mache ich das systematisch. Es gibt eine Liste mit Websites, die ich einmal pro Woche durchgehe, einige davon per RSS-Feed. Als Feedreader nutze ich Thunderbird. Alle wichtigen Termine trage ich in einen Kalender ein, sobald ich sie bemerke. Ein guter Tag fürs wöchentliche Monitoring ist Sonntag. Oft sind am Freitagnachmittag noch nicht alle Termine für die kommende Woche beisammen.

ORN: Welche Websites gehören zu deinem Monitoring?

Alex: In der wöchentlichen Agenda des EU-Parlaments schaue ich, was in den Ausschüssen passiert. Die Ausschüsse verhandeln ihre Positionen zu einem Gesetz, bevor im Plenum darüber abgestimmt wird.

Auf der Website des Rats schaue ich, zu welchen Themen sich die Minister*innen treffen. Die grundlegende Arbeit im Rat machen allerdings die Botschafter*innen im Ausschuss der ständigen Vertreter (Coreper I und Coreper II), auch da schaue ich wöchentlich nach. Außerdem hat der Rat Arbeitsgruppen. Die geben einen Eindruck, welche Vorentscheidungen für die Verhandlungen getroffen werden. Wenn uns ein Gesetz besonders interessiert, schauen wir uns auch deren Treffen genau an.

Ich verfolge auch die Termine der EU-Ratspräsidentschaft. Alle sechs Monate übernimmt ein anderes EU-Land den Vorsitz im Rat. Im zweiten Halbjahr 2023 ist das Spanien. Das heißt: Spanien kann die Agenda vorgeben und entscheiden, welche Themen priorisiert werden. Spanische Diplomat*innen leiten fast alle Sitzungen der Ratsarbeitsgruppen.

Die Kommission veröffentlicht eine Agenda fürs wöchentliche Treffen ihrer Kommissar*innen. Dort kann man zum Beispiel sehen, wenn ein neuer Gesetzesvorschlag kommt. In vielen Fällen werden solche Vorschläge schon lange im Voraus erwartet. Die Kommission beantwortet außerdem regelmäßig Fragen des EU-Parlaments schriftlich (Website, RSS) .Die Antworten sind zwar meistens politisch nicht sehr aussagekräftig, aber zumindest erklären sie den juristischen Hintergrund und verweisen auf relevante Dokumente.

Die vierte wichtige Institution, die ich im Blick behalte, ist der EuGH, der auf seiner Website alle Termine und Urteile veröffentlicht. Manchmal ist auch im Vorfeld der Urteile interessant, welche Richtung der Generalanwalt in seinen Gutachten vorgibt.

Falsche Gewichtung bei deutschen Nachrichtenmedien

ORN: Verfolgen das alle EU-Journalist*innen so genau?

Alex: Nein, viele Korrespondent*innen, die ich in Brüssel kennengelernt habe, berichten nur drei Mal über ein Gesetz: Wenn die Kommission es vorschlägt; wenn Rat und Parlament sich geeinigt haben; und wenn es in Kraft tritt. Dazwischen gibt es aber – ungelogen! – über mehrere Jahre hinweg Hunderte Zwischenschritte, bei denen etwas Wichtiges passieren kann. Als ich für die Austria Presse Agentur über EU-Gesetze geschrieben habe, wurde ich ständig gefragt: Ist das Gesetz denn jetzt beschlossen?

Und ich musste immer wieder sagen: Nein, es macht noch ganz viele Schleifen. Das ist vielen Nachrichtenmedien zu kleinteilig. Sehr nah an der Gesetzgebung berichten politico.eu, netzpolitik.org, Euractiv, EUobserver, Agence Europe, Contexte und Mlex.

ORN: Sollten große Nachrichtenmedien mehr über die EU berichten?

Alex: Ja, viele EU-Gesetze haben immense Auswirkungen auf unseren Alltag, die den Betroffenen erst Jahre später klar werden. Vor allem, wenn Journalist*innen nicht genau genug hinschauen. Große, deutsche Nachrichtenmedien begleiten vorwiegend die Gesetzgebung in Deutschland. Ich halte das für eine falsche Gewichtung. Oft setzen deutsche Gesetze bloß das EU-Recht um, über das zuvor Politiker*innen in der EU entschieden haben. Das ist oft ein Drama mit unbekannten Darsteller*innen – auch weil Medien kaum über sie berichten. Wer kann schon aus dem Stand mehr als zwei EU-Kommissar*innen beim Namen nennen?

ORN: Wenn ich ohne Vorwissen über ein EU-Gesetz berichten will, wo fange ich an?

Alex: Eine gute, erste Anlaufstelle ist das „Legislative Train Schedule„. Das ist eine Website des EU-Parlaments, die laufende Gesetzesvorhaben kurz zusammenfasst. Dort schaue ich nach, wenn ich wissen will, worum es überhaupt geht.

Genauer wird es dann im „Legislative Observatory„, auch eine Website des EU-Parlaments. Dort musst du dein Gesetz zuerst per Suchmaske finden. Für jedes Gesetz zeigt eine Übersicht, welche Ausschüsse sich im Parlament damit befassen. Ganz oben steht der federführende Ausschuss. Jeder Ausschuss hat Berichterstatter*innen, also verantwortliche Abgeordnete. Deren Büros kannst du per E-Mail kontaktieren und dich regelmäßig nach dem Stand der Verhandlungen erkundigen. Auf der Website findest du außerdem den Link zum Gesetzentwurf der Kommission.

“Geschichten, die sonst niemand macht”

ORN: Welche Rolle spielt AskTheEU bei deiner Arbeit?

Alex: Ich bin ein Poweruser. Inzwischen bin ich auch im Advisory Board der Organisation, die das betreibt. AskTheEU ist die Plattform für IFG-Anfragen an EU-Institutionen. Das Recht auf den Zugang zu EU-Dokumenten gibt es seit 2001, seit 2009 steht das Recht auf Informationszugang sogar in der Grundrechte-Charta der EU. Das heißt, jeder Mensch kann von der EU Dokumente anfragen. Bei AskTheEU sind diese Anfragen öffentlich. Wenn ich mich für ein Dokument interessiere, kann ich dort zuerst nachschauen, ob es schon jemand angefragt hat. AskTheEU bietet auch Hilfestellung, wenn eine Anfrage abgelehnt wird und man Einspruch erheben will.

ORN: Wir haben jetzt viel darüber gesprochen, wie mühsam EU-Recherchen sind. Kannst du noch etwas über die Vorzüge sagen?

Alex: Ja, sobald man die Hürden überwunden hat, erschließen sich einem sehr, sehr viele super interessante Storys. Ich kann Journalist*innen nur dazu ermuntern! Man arbeitet sich da einmal rein, und dann kann man Geschichten machen, die sonst niemand macht, weil andere es nicht verstehen oder nicht mitbekommen.

ORN: Zum Beispiel?

Alex: Die Story von den Eurokraten, die willfährig gekrümmte Bananen verboten und mit ihrer Regulierungswut zum Brexit beitrugen, ist einer der größten EU-Mythen schlechthin. Ich bin dem mal – bewaffnet mit Dokumenten aus einer IFG-Anfrage – auf den Grund gegangen. Und: Die Transparenz der EU hat ihre Grenzen. Nämlich bei den SMS, die ihre Führungsfiguren einander schreiben. Mein Text lotet aus, warum das zum Gegenstand einer großen Transparenzklage der New York Times wurde.